Offener Brief von in Genf ausgebildeten und/oder praktizierenden Fachpersonen im humanitären Völkerrecht 

 

Adressiert an den schweizerischen Bundesrat und die aussenpolitischen Kommissionen der schweizerischen Bundesversammlung

Mit Kopien an den Service du Conseil Municipal de la Ville de Genève und den Grand Conseil de la République et canton de Genève.

 

Wir, die Unterzeichnenden, Fachpersonen für das internationale humanitäre Völkerrecht, die in Genf ausgebildet wurden und/oder unser Fach dort praktizieren, sind zutiefst besorgt über die anhaltenden Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht (HVR) im Gazastreifen in den letzten 19 Monaten. Als Reaktion auf die abscheulichen Angriffe und Geiselnahmen vom 7. Oktober 2023 verfolgt Israel einen Kurs, der von wahllosen Bombardierungen, Angriffen auf humanitäre Helfer, Journalisten, Schulen, Krankenhäuser und Einrichtungen der Vereinten Nationen, Kollektivstrafen und dem Einsatz von Hunger als Kriegsmethode geprägt ist, alles völkerrechtlich verbotene Massnahmen. 

 

Zehntausende von Zivilisten wurden getötet, und viel zu viele weitere wurden verletzt und oft dauerhaft verstümmelt. Zahlreiche RechtswissenschaftlerInnen, humanitäre und Menschenrechtsorganisationen sowie andere internationale Stimmen warnen, dass Israel gegen die Genozidkonvention verstösst. Dennoch wurde viel zu wenig getan, um die Zerstörung und Verwüstung zu stoppen. Die zwei Millionen Zivilisten in Gaza - die Hälfte davon Kinder - zahlen den Preis. Wir fordern den Schweizer Bundesrat und die Schweizer Bundesversammlung auf, ihre langjährigen humanitären Traditionen zu wahren und sofortige, konkrete Massnahmen zu ergreifen, um dieses Leid zu beenden.


Seit über 11 Wochen verweigert Israel den Zugang zu lebenswichtiger humanitärer Hilfe. Die Bewohner Gazas - darunter Kleinkinder, ältere Menschen sowie Verwundete und Kranke - sind zusätzlich zu den wiederholten Bombardierungen und Zwangsumsiedlungen von Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten, Strom und Brennstoff abgeschnitten. Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes warnte, dass bei einer anhaltenden Blockade "bis zu 71 000 Kinder unter fünf Jahren im nächsten Jahr an akuter Unterernährung leiden könnten". Obwohl in den letzten Tagen einige Hilfsgüter nach Gaza gelangt sind, sind wir besorgt über Berichte der UNO, wonach es ihr nicht gelungen ist, die Hilfsgüter dorthin zu bringen, wo sie benötigt werden. Darüber hinaus sind die Hilfsgüter, die in den Gazastreifen gelangen, nach den Worten eines UN-Beamten "ein Tropfen auf den heissen Stein" im Vergleich zu den dringenden Bedürfnissen der Bevölkerung. 


Wir sind auch zutiefst beunruhigt über Pläne, die eine Politisierung und Militarisierung der humanitären Hilfe in Gaza unter dem Banner der so genannten Gaza Humanitarian Foundation (GHF) riskieren.

 

Dieses von den Regierungen der Vereinigten Staaten und Israels geleitete Projekt mit Sitz in Genf sieht vor, eine begrenzte Anzahl befestigter Lager im Zentrum und im Süden des Gazastreifens zu errichten, von denen aus private Militär- und Sicherheitsunternehmen die Verteilung einer festen 20-kg-Hilfspackung pro Familie alle zwei Wochen überwachen würden, unabhängig von den Bedürfnissen der Bevölkerung. Die Informationen über diese Stiftung sind spärlich, aber es droht sich  um ein zutiefst mangelhaftes und gefährliches Modell zu handeln, welches von den Vereinten Nationen und angesehenen humanitären Organisationen kategorisch abgelehnt wird. Der Leiter des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) hat erklärt, dass die Verteilungsmodalität "den Hunger zu einem Druckmittel macht" und "ein Feigenblatt für weitere Gewalt und Vertreibung" darstellt. Zivilisten können gezwungen sein, weite Strecken unter gefährlichen Bedingungen zurückzulegen, um Hilfsgüter zu erhalten, während ihre Bewegungen zu militärischen Zwecken überwacht und kontrolliert werden könnten.

  

Wir sind zutiefst besorgt darüber, dass die Gaza Humanitarian Foundation offiziell in Genf registriert ist - einer Stadt, deren Name untrennbar mit der Geschichte des humanitären Völkerrechts verbunden ist. Es ist die Stadt, in der wir im humanitären Völkerrecht ausgebildet wurden, und/oder in der wir gelehrt und praktiziert haben und deren Geist unsere akademische und berufliche Wege prägt. Es ist derselbe Geist humanistischer Werte, der Henri Dunant dazu veranlasste, unter dem Eindruck der Schrecken des Krieges "Eine Erinnerung an Solferino" zu verfassen und damit den Anstoss zur Gründung des Roten Kreuzes und der Genfer Konventionen zu geben. Und es ist derselbe Geist, der Generationen von humanitären Helfern dazu bewegt hat, unparteiische, neutrale und unabhängige humanitäre Hilfe in vom Krieg zerrissenen Gebieten zu leisten. Genau dieses humanitäre Ethos droht durch das GHF-Modell der Hilfsverteilung untergraben zu werden. 

 

Wir begrüssen die jüngsten Massnahmen und Erklärungen der Städte Genf und Lausanne und fordern, dass diese beachtet werden. Wir erinnern die Schweizer Behörden daran, dass Neutralität nicht bedeutet, klare Völkerrechtsverstösse nicht zu benennen. Insbesondere nicht angesichts von Verstössen gegen die Genfer Konventionen, deren Depositärstaat die Schweiz ist. Wir betonen aber zugleich: Dies ist nicht der Zeit für Worte und symbolische Gesten, sondern für entschlossenes Handeln.

 

Angesichts dieser schwerwiegenden Bedenken fordern wir den Schweizer Bundesrat und die Schweizer Bundesversammlung dringend auf, im Einklang mit ihren rechtlichen Verpflichtungen und ihrem humanitären Erbe zu handeln. Wir fordern diese Behörden daher auf: 

 

  1. ihre Forderung zu bekräftigen, dass Israel seine rechtswidrige Belagerung des Gazastreifens aufhebt;

  2. ihre Forderung zu bekräftigen, dass Israel die Bereitstellung humanitärer Hilfe im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht erleichtert; 

  3. Israel dazu zu drängen, allen unparteiischen, neutralen und unabhängigen humanitären Organisationen die Durchführung ihrer lebensrettenden Arbeit zu gestatten;

  4. von Israel Informationen über die Gaza Humanitarian Foundation (GHF) anzufordern, insbesondere um sicherzustellen, dass sie im Einklang mit ihrem Leitbild und ihren Statuten arbeitet, "um das Leid der Zivilbevölkerung des Gazastreifens zu lindern, indem sie lebensrettende Hilfe sicher und unter strikter Einhaltung humanitärer Grundsätze leistet – und um sicherzustellen, dass die Hilfe diejenigen erreicht, die sie am dringendsten benötigen, ohne Umleitung oder Verzögerung", und um geeignete Massnahmen zu ergreifen, falls die GHF dies nicht tut, unter anderem über die Eidgenössische Stiftungsaufsicht und das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten;

  5. Auf einen sofortigen Waffenstillstand und die sichere Freilassung aller Geiseln hinzuarbeiten;

  6. Die rechtlichen und moralischen Verpflichtungen der Schweiz als Vertragspartei und Depositärstaat der Genfer Konventionen zu wahren, indem sie alle geeigneten Massnahmen ergreifen, um die Einhaltung des humanitären Völkerrechts sicherzustellen – darunter unter anderem, Sanktionen und einer Bewertung potenzieller Technologietransfers mit der israelischen Rüstungsindustrie;

  7. Alle Entscheidungen und Stellungnahmen des Internationalen Gerichtshofs (IGH) im Zusammenhang mit dem Konflikt zu befolgen;

  8. Uneingeschränkt mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zusammenzuarbeiten und  allen allfälligen Überstellungsersuchen im Einklang mit den Verpflichtungen der Schweiz aus dem Römischen Statut nachzukommen.

 

 

Freitag, 23. Mai 2025.

 

Die unten Unterzeichnenden unterstützen dieses Schreiben in persönlicher Eigenschaft, ohne eine Institution zu vertreten, mit der sie gegenwärtig oder früher verbunden sind.

 

Unterschriften: Siehe französiche Version.